Zivilcourage hat viele Gesichter – Was bewegt uns 2017

Eine kritische Betrachtung aus deutsch-russischer Perspektive

Projektarbeit des Berufskollegs Eschweiler der StädteRegion Aachen und der Pskover Staatlichen Universität in Pskov

vom 3. März bis 10. März 2017

von Michael Joußen

Freitag, 3. März

Endlich war es soweit! Nach den ganzen Vorbereitungen für die Reise nach Pskov trafen wir uns um 8:15 Uhr am Berufskolleg. Nach letzten Überprüfungen der Reisedokumente („Hat jede/r den Reisepass?“) verabschiedeten wir uns um 8:30 Uhr und fuhren zum Flughafen Düsseldorf. Nachdem die Sicherheitsüberprüfungen mit einigen wenigen Duschgel-Verlusten, die halt nicht ins Handgepäck dürfen, gemeistert waren, hatten wir noch ein wenig Zeit zum Erkunden des Duty-Free-Bereichs, bevor es dann an Bord des Aribus 330 der russischen Aeroflott ging. Nach dem Enteisen der Maschine ging es dann los! Die knapp 2,5 Stunden bis St. Peterburg vergingen im Fluge. Im noch ein wenig verschneiten St. Petersburg erfolgte sowohl die Gepäckausgabe als auch die Einreiseabfertigung erfreulich zügig, sodass wir sehr bald Olga Obratneva trafen, die uns mit einem Bus der Universität abholte. Die 350 km bis Pskov schafften wir bis 22:00 Uhr Ortszeit, dort trafen wir am Studentenwohnheim auf unsere Gastgeber. Die Wiedersehensfreude war auf allen Seiten sehr groß und trotz der Anstrengung der Reise sollte es noch einige Zeit dauern, bis in den Familien die ersten Begrüßungsgespräche beendet waren und die Nachtruhe beginnen konnte. Für die Lehrer hatte Igor Savraev ein Willkommensessen im Studentenwohnheim organisiert und natürlich gab es auch hier viel zu erzählen und zu besprechen – schließlich kennt man sich mittlerweile seit 11 Jahren!

Samstag, 4. März

Nach einem reichhaltigen Frühstück in den Familien bzw. im Studentenwohnheim und dem Besuch der Sparkasse zwecks Umtausch von Euro-Bargeld in Rubel ging die Eschweiler Gruppe zusammen mit ihren russischen Gastgebern zunächst zur Universität, zu der auch das Kolleg gehört. Dort verschafften wir uns im Rahmen eines Rundgangs einen Eindruck von der Ausstattung und den Möglichkeiten der Universität.

Ein moderner Konferenzraum im Zentrum für studentische Initiativen würde uns für die Projektarbeiten in den nachfolgenden Tagen zur Verfügung stehen. An diesem Vormittag fand dort schon der erste Teil eines multimedialen interaktiven Sprachkurses statt, der von den russischen Gastgeberinnen Anna und Marina sehr ansprechend und methodisch modern gestaltet wurde. Ziel war es, den deutschen Gästen ein paar zentrale Phrasen für ein freundliches Miteinander in der Stadt und in den Familien beizubringen. Dieses Angebot wurde fleißig genutzt.

Im Anschluss an eine historische Stadtführung mit Besuch des Kremls samt seiner beeindruckenden Dreifaltigkeitskathedrale diente der Nachmittag sowohl gemeinsamen Aktivitäten als auch konzeptionellen Überlegungen hinsichtlich des geplanten Filmprojekts zum Thema Zivilcourage.

Abends waren die Lehrer zu Gast bei Olga und ihrem Sohn Vitali: Bei einem sehr leckeren Abendessen und einem „Wässerchen“ ließ sich gut über die Entwicklungen in der Stadt und im Kolleg seit dem letzten Besuch plaudern.

Sonntag, 5. März

Zivilcourage stand auch im Zentrum unseres zweiten Tages in Pskow. Heute fand zunächst ein Ausflug der Eschweiler Gruppe samt ihren Gastgebern Olga und Igor ins 1489 gegründete Kloster Petschory statt, welches wegen seiner Farbenpracht beeindruckt und auch wegen seiner Grabhöhlen sehr bekannt ist. Noch mehr aber interessierte uns die Geschichte des Klosters, welches zeitweise zu Estland gehörte: Als unter dem sowjetischen Regierungschef Chruschtschow der Druck auf die russisch-orthodoxe Kirche immer weiter zunahm und das Kloster mehrfach drohte geschlossen zu werden, widersetzte sich der damalige Abt. Mit Hinweis auf die starken Festungsmauern des Klosters würde Chruschtschow wohl massive Angriffe durch die Luftwaffe einsetzen müssen um das Kloster zur Aufgabe zu zwingen. Der Abt machte aber deutlich, dass dann die ganze christliche Welt von diesem brutalen Angriff erfahren würde. Chruschtschow nahm daraufhin Abstand von dem Plan: die Zivilcourage des Abts wurde belohnt.

Eine Führung durch die Grabhöhlen des Klosters und durch die inneren Gärten rundete den Besuch im Kloster ab.

Nach einem Mittagessen in Isborsk besichtigten wir die dortige Festung, welche anlässlich ihres 1150-jährigen Bestehens im Jahre 2012 mit viel Engagement restauriert worden war.

Bei uns Deutschen fanden die am Fuße der Festung liegenden „Slawischen Quellen“ großen Anklang: Sollen sie doch heilende und sogar „verschönende“ Wirkungen haben.

Diesmal waren wir Lehrer zum Abendessen bei Igor und seiner Frau Tatiana in die Wohnung von Igors Mutter eingeladen. Wie immer hatten wir Mühe, die Menge an gebotenen Köstlichkeiten auch nur annähernd aufzuessen. Wieder wurde es ein sehr interessanter und lustiger Abend. Der einzige Wehrmutstropfen war, dass uns diesmal Igors Mutter krankheitsbedingt keine Gesellschaft leisten konnte.

Montag, 6. März

Am Vormittag wurden wir im Kolleg der Universität erwartet. Wir wurden sehr herzlich vom Kollegium begrüßt und erhielten nach verschiedenen Präsentationen über das Kolleg eine Führung durch die unterschiedlichen Fachbereiche. Besonders beeindruckt haben uns dabei die Zeichnungen und 3D-Modelle des Architektur-Fachbereichs sowie die Demonstrationen im Elektronik-Labor. Aber wir sollten nicht nur gucken, sondern auch selbst Hand anlegen: Als besonderes „Warming-Up“ nähte jede/r von uns zusammen mit Schülerinnen und Schülern des Fachbereichs Fremdsprachen eine Filz-Matroschka als Kühlschrank-Magnet zusammen - umfassende Handlungsorientierung mit viel Freude und vielen freundlichen Lachern sowie einem guten Gefühl des Miteinanders! Darüber hinaus gab es noch ein weiteres besonderes Geschenk: das Kolleg hatte Tischkalender mit Fotos aus Pskov und dem Besuch in Eschweiler für Alle erstellt.

Nach dem Mittagessen in der Mensa war der Nachmittag ganz dem Projektthema Zivilcourage gewidmet. In drei gemischtnationalen Gruppen wurden zunächst Ideen zu je einem Kurzfilm zum Projektthema überlegt: Was sind Situationen, in denen Zivilcourage im Alltag nötig wäre?

Wie kann man durch den Film zum Handeln auffordern? Interessant waren dabei auch die unterschiedlichen Auffassungen von Zivilcourage. Schließlich hatten alle drei Gruppen ihre Ideen präzisiert und gingen an die Durchführung, wobei sie vom Team des universitätseigenen Studenten-Fernsehens sowohl bei den Aufnahmen als auch beim Zuschnitt und Finish tatkräftig und technisch versiert unterstützt wurden. Wichtig war dabei natürlich die individuelle und intensive Auseinandersetzung der Akteure mit der Thematik. Aber auch hierbei zeigte sich wieder, dass „Schule“ auch Spaß machen kann!

Diesmal wurden die Lehrer zum Abendessen in ein kleines Restaurant mit tadschikischer Küche eingeladen, wo wir die traditionelle Suppe Lagman (mit Fleisch, Nudeln und Kartoffeln) und anschließend Plov (Gericht aus Hammelfleisch, gelben Möhren und Reis) kosteten.

Dienstag, 7. März

Im Russisch-Unterricht wiederholten wir zunächst die Russisch-Phrasen vom Samstag, wobei sich herausstellte, dass die meisten von uns diese schon fast perfekt konnten. Offenbar waren sie seit Samstag häufig eingesetzt worden! Nach dem heutigen Unterricht waren wir dann sogar zu einem bescheidenen Smalltalk auf Russisch in der Lage.

Es folgte die erste Arbeitsphase des heutigen Tages zum Projektthema: In Gruppenarbeiten sollte man sich erneut verschiedenen Aspekten und Ausprägungen von Zivilcourage nähern, indem allen Buchstaben des (lateinischen) Alphabets Aspekte von Zivilcourage zugeordnet wurden. Im Anschluss fand ein reger Austausch über die Ergebnisse zwischen den Gruppen statt. Unterschiedliche Interpretationen der Begriffe boten Raum für tiefergehende und manchmal gegensätzliche Diskussionen.

Nach dem Mittagessen in der Mensa wurden die technisch überarbeiteten Filme in ihrer endgültigen Fassung vorgestellt. Für die meisten war es natürlich völlig ungewohnt, sich selbst als Darsteller in einem professionell bearbeiteten Film zu sehen. So manch eine/r zeigte schauspielerisches Talent!

In den Filmen hatten die russischen und deutschen Schülerinnen und Schüler alltägliche Situationen thematisiert und alle Filme transportierten als Kernaussagen „Nicht wegschauen! Hilfe holen! Einschreiten! Grenzen setzen!“. Insgesamt waren alle zufrieden mit dem Ergebnis.

Später gab es als Vorbereitung für den morgigen Tag eine kurze Präsentation zum 2. Tschetschenien-Krieg. Die in Pskov stationierte Fallschirmspringer-Einheit der 6. Kompanie verlor im Frühjahr 2000 in der „Schlacht um Höhe 776“ 84 ihrer Soldaten, was den Einwohnern von Pskov noch sehr präsent in Erinnerung ist. Die Gefallenen werden als Helden verehrt. Der Anführer soll das Gewehrfeuer der Gegenseite auf sich gelenkt haben in der Hoffnung, seine Kameraden dadurch retten zu können. Den Gefallenen ist ein Denkmal in Form eines Fallschirms gewidmet, auf dessen Unterseite für jeden Gefallenen ein Licht leuchtet. Im Anschluss an die Präsentation wurde die Frage diskutiert, ob der Anführer Zivilcourage gezeigt habe. Die Meinungen gingen auseinander.

Weitere Präsentationen beschäftigten sich mit den Biografien von Andrei Sacharow, Alexander Solchenizyn und Josef Brodski, die mutig für ihre Ideale und Meinungen einstanden.

Als Vorbereitung auf den Besuch des Blockademuseums in St. Petersburg stellte ein Vortrag die historischen Eckdaten der fast 900 Tage andauernden Belagerung der Stadt durch die Deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg dar. Ein den Originalen nachempfundener Ausgabezettel für Lebensmittelrationen half uns dabei eine Vorstellung davon zu entwickeln, unter welch schrecklichen Bedingungen die Menschen damals ausharren mussten.

Im Gegensatz dazu machten die Eschweiler Lehrer beim Abendessen wieder neue angenehme Erfahrungen: Es gab typisches Essen aus Usbekistan, das hervorragend mundete.

Mittwoch, 8. März

Der internationale Frauentag am 8.3. ist in Russland ein Feiertag. Die meisten Geschäfte und alle offiziellen Institutionen bleiben an diesem Tag geschlossen. Um nicht allzu sehr in die Planung der Familien einzugreifen, andererseits aber auch eine weitere Beschäftigung mit dem Projektthema zu ermöglichen, waren die Familien im Vorhinein gebeten worden, Ausflüge zum Denkmal der gefallenen Fallschirmspringer und zum Denkmal für Alexander Newsky zu unternehmen. Letzterer hatte im Jahr 1242 in der Schlacht am Peipus-See in der unmittelbaren Nähe von Pskov die Deutschen Ordensritter besiegt.

Trotz des Feiertags war ein großes, neu errichtetes Einkaufszentrum geöffnet, in das Igor und Tatiana die deutschen Kollegen führten. Tatsächlich hatten viele Russen den Feiertag zu einem Besuch im Einkaufszentrum mit seinem integrierten Spaß- und Wellnessbad genutzt: Wie waren wirklich nicht alleine dort und trafen auch die ein oder andere Gastfamilie!

Abends verwöhnten uns „Slawa“ Wjatscheslaw Odnobokov, der Leiter des Kollegs der Universität, und seine Familie bei sich zu Hause mit ihren Kochkünsten. Neben etlichen köstlichen Sakuska (Vorspeisen) gab es selbst geräucherten Fisch, Lachs und eine himmlische Torte.

So gestärkt unternahmen wir gerne einen Abendspaziergang zurück zur Bushaltestelle vor der Universität und ließen die nächtlichen Eindrücke von Pskov auf uns wirken.

Leider war dies auch schon der letzte Abend in Pskov und zumindest von Slawa und seiner Familie sowie von Olga mussten wir uns heute schon verabschieden.

Donnerstag, 9. März

Zu früher Stunde gegen 7 Uhr erfolgte die Abfahrt nach Sankt Petersburg. Der Abschied fiel den Eschweilern und ihren russischen Gastgebern gleichermaßen schwer, so eng hatte sich die freundschaftliche Vertrautheit in den Tagen des Zusammenseins entwickelt. Einige Eschweiler Gäste äußerten den festen Vorsatz, die privaten Einladungen zu einem Besuch im Sommer wahrzunehmen. Nach einer gut vierstündigen Busfahrt erreichten „die Eschweiler“ die Metropole St. Petersburg, mit ca. 4,5 Mio. Einwohnern die zweitgrößte Stadt Russlands.

Unter fachkundiger Führung von Igor eroberten die deutschen Besucher diese faszinierende Stadt zu Fuß, sahen unter anderem die Eremitage, die Isaac-Kathedrale, das Reiterdenkmal Alexander des Großen, die zugefrorene Newa und das Blockademuseum.

Schließlich blieb auch noch etwas Zeit zum Bummeln auf dem pulsierenden Newski-Prospekt, der in der Vielfalt seiner Einkaufsmöglichkeiten, Restaurants und Cafés keinen Vergleich mit anderen Großstädten zu scheuen braucht.

Unsere kulinarischen Erfahrungen erweiterten die Lehrer durch den lohnenswerten Besuch eines georgischen Restaurants, während die Schülerinnen und Schüler sich freuten, die auch in Deutschland zu findenden Schnellrestaurant-Ketten zu besuchen. Die Übernachtung erfolgte im ebenso komfortablen wie verkehrstechnisch günstig gelegenen Hotel „Rossia“.

Freitag, 10. März

Nun hieß es schweren Herzens Abschied nehmen von einem Land, das mit seiner Gastfreundschaft und kulturellen Vielfalt Schüler/innen und Lehrkräfte nachhaltig beeindruckt hatte.

Fernab der politischen Diskussionen zeigte diese Reise wieder einmal, dass Vorbehalten gegen Fremdes, Angst vor kulturellen Unterschieden und Vorurteilen gegen andere Nationen erfolgreich und effektiv durch ein Kennenlernen auf der menschlichen Ebene entgegen gewirkt werden kann. Zeigte also auch unsere Projektreise Aspekte von Zivilcourage?

Pünktlich um 11 Uhr Ortszeit landete der komfortable Aeroflot-Flieger am Flughafen Düsseldorf. Von da ging es per bequemem Reisebus nahtlos weiter zum Berufskolleg Eschweiler, wo Angehörige und Freunde die Rückkehrer willkommen hießen. Für alle Beteiligten war klar: Diese Fahrt wird noch lange in guter Erinnerung bleiben! Und alle waren sich einig, nach dieser Reise besser mit Zivilcourage und zugehörigen Handlungsmustern ausgestattet zu sein!